U. Hafner: Forschung in der Filterblase

Cover
Titel
Forschung in der Filterblase. Die Wissenschaftskommunikation der Schweizer Hochschulen in der digitalen Ära


Autor(en)
Hafner, Urs
Erschienen
Baden 2020: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
CHF 34,00; € 34,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jon Mathieu, Historisches Seminar, Universität Luzern

Wissenschaft und wissenschaftliche Forschung sind für die moderne Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Zentral ist auch, besonders unter demokratischen Gesichtspunkten, wie darüber berichtet wird. Man denke nur an die öffentliche Auseinandersetzung über Klimawandel, Migration, Reproduktionsmedizin oder Tierversuche. Urs Hafner ist ein gut ausgewiesener Kenner dieser Problematik. Als Journalist und Autor war und ist er in verschiedenen prominenten Positionen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit tätig. Als Historiker verfügt er über einen Weitblick, der es erlaubt, die Gegenwartsproblematik in einem langfristigen Horizont zu situieren. In seinem neuen Buch zeigt er, wie sich die Wissenschaftskommunikation in den letzten Jahrzehnten durch die Hochschulpolitik, die Digitalisierung und den dadurch vorangetriebenen Medienwandel verändert. Auf der Strecke bleibt dabei die autonome, kritische Berichterstattung, die ein aufgeklärtes Publikum im demokratischen Staatswesen richtig ins Bild setzen kann.

Hafners methodisch fundierter, mit Forschungsliteratur und einer systematischen Recherche untermauerter Essay befasst sich in erster Linie mit der Schweiz. Deutschland und weitere Länder finden aber auch immer wieder Erwähnung. Bei einem Forschungsaufenthalt in San Francisco hat der Autor die digitale Avantgarde aus der Nähe studiert. Unterstützt wurde er dabei von Swissnex, einer Einrichtung des schweizerischen Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation. Zwischen Dezember 2017 und November 2018 führte er zahlreiche offene Interviews mit Personen aus unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaftskommunikation. Vertreten waren alle universitären Hochschulen der Schweiz. Anschliessend holte er bei den Verantwortlichen der Hochschulen mit einem Fragebogen Informationen ein zu den Strukturdaten der Wissenschaftskommunikation (Vollzeitstellen, bespielte Social-Media-Kanäle, Follower auf Facebook und Twitter, Anzahl der Medienmitteilungen, Verwendung von Print und Video). Die Ergebnisse zeigen, wie die Hochschulen im Zuge des zunehmenden globalisierten Statuswettbewerbs und der jüngsten Medienrevolution ihre Kommunikation ausgebaut und professionalisiert haben. Darüber hinaus weisen die Daten auch auf feine Unterschiede. Der Wandel stellt sich nicht einfach automatisch ein, dahinter stehen Menschen, die sich im Alltag bewähren wollen. Es gehört zu den Vorzügen der vorliegenden Studie, dass diese Personen ein Profil erhalten.

Der Begriff der Wissenschaftskommunikation ist unklar und wird auf verschiedene Weise verwendet. Soll man darunter „alle Formen auf wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Arbeit fokussierte Kommunikation“ verstehen, die sich innerhalb und ausserhalb der institutionalisierten Wissenschaft abspielt, „inklusive ihrer Produktion, Inhalte, Nutzungen und Wirkungen“? (S. 20). Hafner macht plausibel, dass eine solche weite Definition wichtige Unterschiede verwischt. Die Akteur/innen im Public Relations-Sektor der Hochschulen, im journalistischen Bereich der Medien und in der aktiven Forschung kommunizieren unter verschiedenen Bedingungen und mit verschiedenen Absichten. Dementsprechend erhalten hier auch der Wissenschaftsjournalismus und der öffentliche Auftritt von Forschenden ein eigenes Kapitel.

Den Anfang machen aber zwei Kapitel über die „vergessenen Anfänge“ der Beziehungen zwischen aufstrebender Wissenschaft und Öffentlichkeit seit der Frühen Neuzeit und ihre politischen Implikationen. Zur Sprache kommen hier auch der technisch orientierte „Helvetische Pragmatismus“, der den Geistes- und Sozialwissenschaften reserviert begegnet, sowie die allgemeinen gesellschaftlichen Effekte der Digitalisierung (S. 19–61). Die zwei zentralen Kapitel befassen sich mit den Kommunikationsbemühungen der Hochschulen, die – so eine wichtige Feststellung des ganzen Buchs – in erster Linie „Reputationsmanagement“ betreiben. Im Zentrum steht der Ruf der Institution, nicht die Aufklärung der Bürger und Bürgerinnen, welche die Institution letztlich tragen. Die Lesenden nehmen zum Beispiel mit Erstaunen zur Kenntnis, dass sich die ETH Lausanne, auf Französisch EPFL, zu einer vom Bund alimentierten Medienanstalt entwickelt: „Die EPFL gehört zu den Institutionen, die sich selbst als Medienunternehmen sehen und mit ihrem Webportal und ihren Kanälen in den sozialen Netzwerken allmählich die Rolle der serbelnden Massenmedien übernehmen“ (S. 72). Mit ihren knapp 11.000 Studierenden ist die EPFL nur die siebtgrösste Hochschule der Schweiz, hat aber im Verhältnis dazu die weitaus grösste Kommunikationsabteilung. Sie verfügt natürlich auch über eine Videosektion. Allerdings leistet sie sich bisher noch kein eigenes Fernsehstudio wie die Hochschule St. Gallen HSG und die ETH Zürich.

Auch in den beiden anschliessenden Kapiteln über den journalistischen Bereich und über die Kommunikationsstrategien der Forschenden führt uns Hafner als kenntnisreicher Reiseführer durch das Geflecht der zahlreichen Institutionen und Vereinigungen, mit ihren je besonderen Entstehungskontexten und politischen Affinitäten. In einer kritischen Tradition steht zum Beispiel die neuartige digitale Plattform „Geschichte der Gegenwart“, die der Zürcher Geschichtsprofessor Philipp Sarasin 2016 zusammen mit Kolleg/innen gegründet hat. Sie veröffentlicht nach eigenem Bekunden aktuelle Texte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive und in politischer, aber nicht parteipolitischer Absicht. Sie sollen machtkritisch und intellektuell neugierig sein. Die Plattform wird monatlich rund 50.000 Mal aufgerufen, mehrheitlich aus dem Raum Berlin. Die meisten der bisher etwa achtzig Autoren und Autorinnen arbeiten in den „Humanities“ und stellen ein eigenes Forschungsthema oder Forschungsanliegen vor. Mit im Bund sind auch Künstler/innen, Journalist/innen und Jurist/innen. Sie alle sind angehalten, auf Fachjargon und Fußnoten zu verzichten. Hafner bespricht die Plattform auch aus journalistischer Perspektive und merkt kritisch an, dass sich der Jargon eben doch immer wieder einschleicht und dass nicht alle Wissenschaftler/innen imstande sind, sich kurz zu fassen und auf den Punkt zu kommen (S. 164–169).

Getreu seinem wissenschaftsjournalistischen Credo fasst der Autor seine Beobachtungen und Anliegen in einem Schlusskapitel in griffigen Parolen zusammen (S. 175–192): „1. Die Wissenschaftskommunikation steht im Bann des Reputationsmanagements. Ihr fehlt das wissenschaftsjournalistische Korrektiv. 2. Die Revolution der Social Media produziert einen Erwartungsüberschuss. Er mündet in Community Building. 3. Die Forschenden sollten sich in öffentliche Debatten einbringen. Dafür braucht es Mut und Erzählgeschick. 4. Die Alternative zur Informationsflut lautet nicht Fact New versus Fake News, sondern Reflexionswissen versus Faktenglauben.“

Ich würde jede dieser Thesen unterschreiben. Vielleicht könnte man ausdrücklich beifügen, dass nicht nur die Forschenden Mut und Geschick brauchen, sondern auch die Frauen und Männer in der Wissenschaftskommunikation (die mehr Autonomie haben sollten) und die Wissenschaftjounalist/innen (die besser gestellt werden müssen). Sie alle arbeiten unter den Zwängen, die im Buch eindringlich beschrieben werden. Gäbe es im globalisierten Kontext der aktuellen Wissenschaft eine allgemeine strukturelle Alternative? Könnte man sich, ausgehend vom historischen Überblick über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit seit dem 18. Jahrhundert, ein Zeitalter „nach der Filterblase“ vorstellen? Das ist nur eine der vielen Fragen, zu denen der Essay von Hafner anregt. Auch journalistisch könnte man das Projekt mit Gewinn weiterführen: Warum nicht einen vertiefenden Podcast daraus machen, wie er sich an der amerikanischen Westküste eingebürgert hat, oder ein inspirierendes Video, um so ein anderes Publikum für die Fragen zu sensibilisieren?

Redaktion
Veröffentlicht am
07.04.2020
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Weitere Informationen